Zitronenzauber

Auch Kinder müssen die Kunst des Streitens lernen. Dies gelingt am besten durch Verwendung von Metaphern. Die folgende Geschichte dient hierbei der Vermittlung der Ideen der gewaltfreien Kommunikation für Kindergarten- und Grundschulkinder:

Der kleine Rosenkäfer Lars wohnte in einer Blumenwiese am östlichen Waldrand. Es war ein

guter Ort für die Käfer, denn es kamen selten die Menschen hierher mit ihren lärmenden und

stinkenden Traktoren oder ihren schnüffelnden und garstigen Hunden, die Lars immer einen

Riesenschreck einjagten. Lars' bester Freund war der Marienkäfer Mats - sie kannten sich seit

sie aus ihren Larven geschlüpft waren und verbrachten fast jeden Tag zusammen - außer

Sonntag, denn Lars' und Mats' Mamas bestanden darauf, dass die beiden wenigstens an einem

Tag mal zu Hause waren und mit ihren Geschwistern spielten.

 

 

Aber heute war Mittwoch, und die beiden Käfer waren gerade im Gänseblümchenwald

unterwegs. Sie überlegten gerade, was sie heute anstellen könnten (Vielleicht so lange am

Netz der alten Spinne Martha zupfen, bis sie - sozusagen wie von der Tarantel gestochen - aus

ihrem Versteck gestürmt kam? Bei Menschenkindern nennt man das übrigens

Klingelstreich.). Da hörten sie in der Nähe laute Rufe.

 

 

Hinter der nächsten Kurve sahen sie eine Bande junger Hirschkäfer Käfer-Bockhüpfen

spielen. Ein Käfer musste von einer Blume hinunter auf ein Blatt springen, wie auf ein

Sprungbrett, und von dort musste er versuchen, über so viele andere Käfer wie möglich zu

springen. Wenn er es nicht ganz schaffte, war das besonders schmerzhaft für den letzten Käfer

in der Reihe, weil der Springer dann auf ihm landete. Anscheinend war das gerade passiert,

denn Nils, der größte und stärkste unter den Hirschkäfern, baute sich gerade vor einem seiner

Kameraden auf: " Meinst Du vielleicht, Du bist ne' Feder oder was? Wenn de' nich' ordentlich

springen kannst, dann geh' heim und spiel' Puppenmama mit deinen Schwestern. Mann, mir

tut jeder Knochen weh! Geh' mal zur Seite, ich bin jetzt dran!" Nils machte sich daran, auf das

Gänseblümchen zu steigen. Er sprang auf das Blatt, machte einen großen Satz...und landete

mitten auf dem armen kleinen Hirschkäfer, der als letzter in der Reihe stand. "Oh Mann, was

machst du denn hier? Stehst mir ja mitten im Weg, Mann. Sieh' zu, dass du das nächste Mal

aus dem Weg gehst, klar?", schnauzte ihn Nils an. Der kleine Hirschkäfer Pablo rieb sich das schmerzende Vorderbein und nickte verlegen. Er wagte es nicht, Nils zu widersprechen.

 

Mats stieß Lars in die Seite: "Komm! Wir fragen mal, ob wir mitmachen dürfen, ja?" - "Ich

weiß nicht, meinst du, die lassen uns?" - "Klar! Komm, das macht bestimmt riesig Spaß!"

Mats ging ein paar Schritte auf die Hirschkäferbande zu: "Hey Leute, können wir

mitmachen?" Der große Hirschkäfer Nils stemmte sich die Vorderbeine in die Hüften und

betrachtete Mats und Lars prüfend. Dann spuckte er ins Gras und nickte Mats zu: "Du ja, aber

dein komischer Kumpel hier nicht, klar?" Mats wurde noch roter als er ohnehin schon war,

und seine Fühler begannen vor Aufregung zu zittern: "Naja, Lars, dann musst du heute wohl

was anderes machen". Und weg war er.

 

Lars stand sprachlos an seinem Platz und wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte seinem

Freund sagen, dass er das nicht in Ordnung fand, aber sein Mund war ganz trocken und er

traute sich nicht, vor allen Hirschkäfern etwas zu sagen. Also drehte er sich um und schlich

langsam nach Hause. Es brodelte in ihm: Was fiel diesem blöden Nils ein, sich so

aufzuspielen - und warum hörten alle anderen auf ihn? Und jetzt auch noch Mats. War er

nicht sein Freund?

Seine Mutter wunderte sich sehr, dass er mitten am Tage zu Hause auftauchte: "Hallo, Lars.

Alles in Ordnung? Hilf' mir doch mal gerade, diese getrockneten Blätter zusammenzulegen,

ja?" Und schon war sie in ihrer Wohnhöhle verschwunden, wo eine von Lars' kleinen

Schwestern gerade brüllte. Lars stand da mit einem getrockneten Blatt in der Hand und war

immer noch so ärgerlich, dass er das Blatt vor Wut in der Mitte zerriss: "Passt auf! Morgen

mache ich auch mit! Und dann zeige ich Euch allen, dass ich am besten springen kann - auf

jeden Fall weiter als dieser Angeber Nils!"

 

Am nächsten Tag machte Lars sich wieder auf den Weg in den Gänseblümchenwald. Schon

von Weitem hörte er Mats mit den anderen lachen. Sein Freund war wirklich nicht bei ihm

vorbeigekommen, sondern direkt zu den Hirschkäfern gelaufen! Der Ärger darüber gab Lars

die nötige Kraft auf die Lichtung zwischen die Gänseblümchen zu stürmen und den anderen

Käfern zuzurufen: "So, und heute mach' ich auch mit. Und da zeige ich Euch mal, dass ich

weiter springen kann, als ihr alle!" Nils schaute ihn an und zog verächtlich den Mundwinkel

nach oben. "Ein Rosenkäfer, der weit springen kann? Das wäre ja ganz was Neues."

Lars kletterte auf das Gänseblümchen. Unten auf dem Gras sah er die Hirschkäfer stehen und

seinen Freund Mats - alle sahen erwartungsvoll zu ihm hinauf. Er ging in die Knie, stieß sich

fest ab, sprang - so fest es ging - auf das darunterliegende Blatt und segelte los. Oh Mann, so

weit war er noch nie gesprungen. Er fühlte, wie Triumphgefühl in ihm aufstieg, als er weit

hinter dem letzten Käfer in der Reihe auf dem Boden landete.

Nils stemmte die Hände in die Hüften und rief: "Ist ja klar, dass der Rosenkäfer so weit

springt. Er schummelt ja auch. Habt ihr gesehen: Der ist viel zu weit vorne auf das Blatt

gesprungen. So kann das ja jeder." Er sah in die Runde und alle anderen Käfer nickten

zustimmend - alle Hirschkäfer...und auch Mats. Lars konnte es nicht fassen. "Also, Abmarsch

Rosenkäfer - wir wollen keine Schummler hier bei uns haben", rief Nils, und die Käfer ließen

Lars einfach stehen.

 

Lange Zeit saß Lars alleine auf der Lichtung. Erst schimpfte er vor sich hin, dann weinte er

ein bisschen. Und dann saß er lange da, starrte vor sich hin und wusste nicht, was er tun sollte.

Auf einmal bemerkte er eine kühle Brise, die über seinen Panzer strich. Ein großer

Zitronenfalter war neben ihm gelandet. Seine großen strahlend gelben Flügel fächelten Lars

frische Luft zu, und er bildete sich ein, wirklich einen leichten Hauch von Zitrone zu riechen.

Er war noch nie so nahe an einem Schmetterling gewesen. Käfer und Schmetterlinge blieben

normalerweise lieber unter sich.

 

Doch dieser Schmetterling war anders. Er hatte sich neben Lars auf den sonnenwarmen

Boden gesetzt, seine großen samtigen Flügel zusammengefaltet und schaute den kleinen

Käfer ruhig an, aber er sagte nichts. Das war ungewohnt für Lars - normalerweise fragten

einen die großen Insekten doch immer aus und wollten alles wissen. Er blinzelte in die warme

Sonne und konnte es sich nicht verkneifen, dem Schmetterling eine Frage zu stellen: "Was

machst du denn hier?". "Ich? Ich sitze hier. Und du?", gab der Falter mit einer tiefen und

warmen Stimme zurück. Lars staunte - er hatte noch nie einen Schmetterling sprechen hören.

Was für ein schöner Klang! Er setzte an, wollte eigentlich sagen, dass er auch nur hier saß, da

rollten ihm auf einmal Tränen über das Gesicht und die ganze Geschichte brach aus ihm

heraus: Dass die anderen ihn nicht mitmachen ließen, dass sie sich über ihn lustig machten

und dass sein Freund Mats nicht zu ihm hielt.

Der Schmetterling hörte nur zu. Ab und zu bewegte er leicht seine Flügel, so dass ein leichter

zitronenkühler Hauch über Lars' verweintes Gesicht strich. Das tat gut, und Lars beruhigte

sich allmählich.

 

Nach einer ganzen Weile hörte er die warme Stimme des Schmetterlings sagen: "Deine

Tränen sagen mir, dass du traurig bist über das, was passiert ist, und das kann ich verstehen".

"Natürlich bin ich traurig", platzte es aus Lars heraus. "Ich fühle mich so einsam und es tut

weh." "Jaja", sagte der Zitronenfalter, "jaja - dir ist es wohl wichtig, dass Käfer freundlich

miteinander umgehen und alle zusammen etwas tun."

"Ja", stieß Lars hervor, "genau! Mir ist Freundschaft wichtig, und dass ich mich auf meine

Freunde verlassen kann. Egal, was passiert, egal ob ich etwas falsch gemacht habe oder

nicht."

"Hm, hm", machte der Falter. "Solche Freunde wünschen wir uns alle, nicht wahr? Auch

wenn man es manchen Käfern gar nicht anmerkt. Jaja. Was würdest du sagen, wenn ich ein

Zauberschmetterling wäre? Was wäre, wenn du jetzt einen Wunsch frei hättest?" Er lächelte

den kleinen Käfer an. Lars schloss die Augen. "Dann würde ich mir wünschen...." Er zögert.

"Ich würde mir wünschen, dass alle Käfer zusammen spielen. Jeder darf mitmachen und alle

haben einen Riesenspaß. Wenn ein Käfer etwas Tolles schafft, jubeln alle anderen und wenn

jemandem etwas nicht gelingt oder sich weh tut, dann trösten ihn die anderen und helfen ihm,

damit es beim nächsten Mal besser klappt. Und dann, Schmetterling...", Lars öffnete die

Augen. Der Schmetterling war verschwunden. Nur das warme Sonnenlicht und ein Hauch von

Zitrone lagen noch in der Luft. Lars fragte sich, ob er das alles vielleicht nur geträumt hatte.

Am nächsten Tag war Lars wieder in der Nähe des Gänseblümchenwalds unterwegs, als er die

lauten Rufe der Hirschkäfer hörte. Langsam ging er in diese Richtung und schaute den

anderen zu, die sich für heute ein neues Spiel ausgesucht hatten. Kaum trat Lars auf die

Lichtung, hatte Nils ihn schon entdeckt und baute sich vor ihm auf. "Ah, da ist ja unser

kleiner Schummler wieder. Hast du dir's anders überlegt und willst mal ohne Schummeln

mitmachen. Kost' dich aber drei Heidelbeeren - dann denk' ich mal drüber nach!" Er grinste

breit und Beifall heischend in die Runde. Die anderen Hirschkäfer stießen sich die

Ellenbogen in die Seiten und kicherten - auch Mats machte mit, er konnte Lars dabei aber 

nicht in die Augen schauen.

 

Lars schaute sich um. Da auf einmal bemerkte er in der warmen Luft eine kühle Brise und

einen Hauch Zitrone. Er stellte sich gerade vor Nils hin, schaute ihm in die Augen und sagte:

"Du hast gestern auch zu mir gesagt, dass ich geschummelt habe und auch, dass Schummler

bei Euch nicht mitspielen dürfen. Ich war gestern ganz schön einsam und traurig. Es hat sehr

weh getan, denn mir ist es wichtig, dass ich Freunde habe, mit denen ich spielen und auf die

ich mich verlassen kann . Mit ist es wichtig, dass Freunde sich unterstützen, auch wenn mal

etwas schief geht und freundlich zueinander sind. Ich glaube, so wie du hier spielen möchtest,

passt es für mich nicht." Und Lars drehte sich um und ging. Die anderen Käfer ließ er

schweigend und sprachlos zurück.

Am Rand einer großen Pfütze setzte sich Lars hin, um darüber nachzudenken, was er getan

hatte. Oh je, jetzt hatte er ja gar niemanden mehr zum Spielen! Er schloss die Augen, spürte

die warme Sonne, roch das frische Gras und die Wildkräuter. Was sollte er bloß tun?

Auf einmal schob sich ein Schatten vor die Sonne. Erschrocken öffnete Lars die Augen. War

Nils gekommen, um es ihm heimzuzahlen? Er blinzelte gegen die Sonne und erkannte

plötzlich den kleinen Hirschkäfer Pablo. "Darf ich mich zu dir setzen?", fragte Pablo. Lars

nickte verwundert. Schüchtern schaute Pablo ihn an. "Ich finde das ganz toll, was du gerade

zu Nils gesagt hast. Weißt du, ich finde das auch. Aber ich hätte mich niemals getraut, das

Nils zu sagen. Wenn du....", Pablo zögerte und wurde rot, "wenn du magst, könnten wir zwei

ja etwas zusammen machen." Lars schaute ihn an und spürte auf einmal ein warmes Kribbeln

in ihm aufsteigen. Jetzt hatte er doch jemanden zum Spielen! "Ja klar", rief er und sprang auf,

" was sollen wir machen?". "Ich habe das so eine Idee," grinste Pablo.

Eine Stunde später hatten die beiden alles fertig. Oben auf einer großen Schafgarbe lag ein

Blatt. Pablo stand darauf und schaute etwas ängstlich zu Lars hinunter. "Soll ich?" "Na klar,

du schaffst das", rief Lars. Da stieß sich Pablo mit dem Blatt ab, schwebte ein Stück und

setzte dann auf der großen Pfütze auf- wie mit Wasserskiern. Er schoss über die

Wasseroberfläche und jauchzte! Was für ein Spaß.

 

Den ganzen Nachmittag spielten die beiden Blätterski. Die beiden? Nicht ganz. Nach und

nach waren immer mehr Käfer dazu gekommen, die wissen wollten, was denn da los war.

Auch viele Hirschkäfer aus Nils' Bande und der Marienkäfer Mats waren dazu gekommen.

Mats hatte sich bei Lars entschuldigt: "Das war ganz schön blöd von mir, Lars. Tut mir echt

leid. Ich finde es auch viel besser, wenn alle freundlich zueinander sind und sich helfen. Darf

ich bei Euch mitmachen?" Und ob er durfte!

Am Abend, als die Sonne schon ganz tief stand und ihr warmes orangenes Licht über die

Wiese schickte, lag Lars im Gras und schaute zufrieden den Wolken zu, die vorbeizogen. Was

hatte sich alles geändert! Und das nur an einem Tag! Er war so glücklich, dass es am ganzen

Körper kribbelte und stolz, dass er sich getraut hatte, mit den anderen zu sprechen. Zufrieden

schloss er die Augen und hatte auf einmal Zitronenduft in der Nase. Er schlug die Augen auf, aber es war kein Zitronenfalter zu sehen. Ob es doch ein Zauberschmetterling gewesen war?

 

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